1. Armuts- und Reichtumsbericht 2015 in Baden-Württemberg

Stellungnahme der LAK-BW für den Ersten Armuts- und Reichtumsbericht 2015 in Baden-Württemberg

(zum Kapitel: Stellungnahmen zum Armutsbericht seitens der Mitglieder des Beirates für Armutsprävention und Armutsbekämpfung in Baden-Württemberg)

Die LAK-BW ist nach ihrer Gründung im März 2012 mit grossem Optimismus in den Armutsbericht BW 2012- 2015 eingestiegen. Im Beirat zu sein war das eine, den Armutsbericht bei nahezu allen Treffen des Arbeitskomitees der LAK-BW und bei einigen Veranstaltungen gesondert (vor allem 25.10.2014) im Blick zu haben, das andere.
Angesichts der dramatischen Armutslage in Europa – 24,5 % der Bevölkerung in der EU leben in Armutsverhältnissen und in Deutschland sind 20,3 % der Bevölkerung von Armutslagen betroffen – ist erfreulich, dass wir in Baden-Württemberg offensiv den Weg zu einer Armuts- und Reichtumsberichterstattung eingeschlagen haben. Damit steigt das gesellschaftliche Interesse an der Entwicklung des Sozialen im eigenen Bundesland.

In Frankreich zum Beispiel steigen die Obdachlosenzahlen binnen 2001 – 2011 ums Doppelte auf 130 000 Personen, derzeit gelten 3,6 Millionen Menschen in Frankreich als in prekären Verhältnissen lebend. Es wächst zudem die Zahl der armen Arbeiter, die sich trotz Einkommen keine Wohnung leisten können. 25 % der Obdachlosen insgesamt gehen einer Arbeit nach, verdienen wenig, arbeiten in Randzonen des Arbeitsmarktes, unterbezahlt, deutlich unter dem nationalen Mindestlohn. 40 % der Obdachlosen insgesamt suchen einen Job, sie scheitern jedoch häufig an Fahrtkosten, Kleidung, fehlender Wohnung. Ein Drittel dieser Obdachlosen nennt gesundheitliche Probleme, mangelnde Sprachkenntnisse oder Probleme beim Lesen und Schreiben als Handicaps. Und noch eine wichtige Zahl: 29 % der Arbeitslosen in Europa erhalten keine Transferleistungen. (Französisches Statistikamt INSEE, in Südkurier vom 30.04.2014, Seite 8, „Frankreichs arme Arbeiter“).

Deutlich ist in der Dauer der Erarbeitung dieses Armutsbericht geworden, dass es keine präzise Zahlen zur Extremen Armut und Sozialen Exklusion – vergleichbar den französischen Daten – im Bundesland Baden Württemberg gibt. In den vier nationalen Armutsberichten (2001 – 2013) finden sich nur im 2. Bericht von 2005 Ansätze einer Erhebung und Messung von Zahlen zur Lebenslage Extreme Armut.

Laut Bericht der Badischen Zeitung Freiburg vom 16.12.14 ist von einer Zunahme der Obdachlosenzahlen in Baden-Württemberg, sowie von einer Zunahme der Extremen Armut auszugehen. Ebenso von einer Verknappung des bezahlbaren Wohnungsbestands. Die Statistik der Wohnungssuchenden in Freiburg geht aktuell von 1431 Personen aus, in Lörrach stehen 2500 Personen auf der Warteliste. 120 Personen kommen täglich zum Frühstück in die Pflasterstube der Caritas am Münsterplatz Freiburg. Die Mindestwartezeit auf eine sozial geförderte Wohnung für obdachlose Bewohner der Stadt dauert in Rottweil momentan 6 Monate, obwohl dort angeblich keine Wohnungsnot herrscht.

In Stuttgart stehen rund 12 000 Wohnungen leer, sie können von niemanden bezahlt werden, der über ein geringes Einkommen oder soziale Transferleistungen verfügt. Dem gegenüber liegt die Zahl der dringend Wohnungssuchenden in Stuttgart bei 3.500 Personen.
Wir sind gespannt auf die Ergebnisse der Umfrage des Landes-Sozialministeriums (durch giss Bremen) bei den Kommunen und Landkreisen in BaWü bzgl. aktueller Zahlen von kommunaler Wohnungslosigkeit in BaWü.

Insgesamt sind Lebenslagen wie Wohnen, Einkommen, Gesundheit, Bildung, Kultur Arbeit in ihren prekären Auswirkungen 2015 deutlicher geworden als dies noch 2012 der Fall war. Dies betrifft ebenso die gesellschaftliche Spaltung und den Zerfall der Gesellschaft in Zonen des extremen Reichtums und Zonen der Verwundbarkeit bzw. extremen Armut.

Neue Themen bzw. Herausforderungen in 2014/2015 sind gesellschaftliche Spaltungen in Europa, Erwerbslosigkeit, Flucht, Asyl, Migration, Bildung Inklusion, Befähigung und Capabilities, Mobilität und Teilhabe, politische Partizipation sowie die lebhafte Fortsetzung der neoliberalen Gesellschaftspolitik (TTIP etc.).

Krisen, Kriege, Terror, Hunger und Gewalt bilden ein globales dauerhaftes Szenario 2014/2015.

Wir kommen auf unsere Stellungnahme vom 30.06.2012 für den Armutsbericht zurück. Wir hatten damals gefordert, zu klären bzw. zu erörtern:

– differenzierter Armutsbegriff
– Fakten zur Ungleichheit, Disparität von Reichtum und Armut
– Ausweitung der Armutsdebatte auf Exklusion bzw. Prekarisierung
– Kritik der Agenda 2010/neolioberale Reformpolitik
– Migration, Flucht, Asyl, Illegale
– Armutskreisläufe
– Kulturelle teilhabe und politische Partizipation
– Sozialkulturelles Existenzminimum (Umsetzung BVG Urteil von 2010)
– Lebenslage von Sondergruppen (Sucht, Wohnungslose, Drogenabhängige, Aids, Deklassierte).

Aus Projekten, Veranstaltungen, Diskursen während der Jahre 2012 – 2014 seitens und mit der LAK-BW ergeben sich Anregungen und konkrete Punkte für sozialpolitische Perspektiven und Entwicklungen in Baden-Württemberg:

– Landespolitische Forderungen der LAK-BW zur Sozialpolitik 2013-2014 (die homepage der lak-bw)
– Charta der LAK-BW, netzwerke 1 und 2 vom 09.12.2014
– 2 Sozialpolitische Ratschläge Baden-Württemberg vom 13.06.2013 und 25.10.2014
– Veranstaltung „2 Jahre LAK-BW“ vom 10.05.2014 mit dem Schwerpunkt Menschenrechte
– Besuch und Mitwirkung bei Veranstaltungen des Sozialministeriums zum Armutsbericht im Dezember 3013 und Oktober 2014
– Mitarbeit im Beirat Armutsprävention und Armutsbekämpfung in BaWü in den Jahren 2012 – 2014
– Diskussionen innerhalb der LAK-BW im Austausch der Mitglieder und Aktiven (18 Treffen des Arbeitskomitee im Zeitraum 2012 – 2014)
– Begegnungen mit Gewerkschaften, Kirchen, Wohlfahrtsverbänden, örtlichen Gruppierungen z. B. Heidelberger Bündnis, diversen Sozial-Hochschulen, der Allianz für Beteiligung, dem Antirassistischen Kongress, der Landes-AG Quartiers-management und Gemeinwesenarbeit, dem Forum Menschenrecht an der Hochschue Weingarten, der Gesellschaft für Gemeindepsychologische Forschung und Praxis GGFP e. V. etc.
– Begegnungen mit Vertretern der Landespolitik bzw. den Landtagsfraktionen
– Mitgliedschaft der LAK-BW in der Nationalen Armutskonferenz NAK und Bildung der AG Koordinierung der Landesarmutskonferenzen in Deutschland (19.12.14 in Hannover)
– Treffen mit der Bundesbetroffeneninitiative wohnungsloser Menschen BBI, dem Aktionsbündnis Sozialproteste ABSP, dem Armutsnetzwerk e. V.
– Mitträgerschaft der diesjährigen „Aktionswoche BaWü: Armut bedroht alle, Wohnst du noch?“ vom 13.-17.10.14
– 4 Treffen der Delegierten der LAK-BW aus den Netzwerken 1 und 2: Erweiterung durch Kooperationsvereinbarung im Nov. 2013 und Chartaverabschiedung im Dezember 2014.
Für die sozialpolitischen Ziele einer verstärkten Inklusion und Integration der von Armut bedrohten Menschen seien folgende Überlegungen/Forderungen für den Armutsbericht bzw. den follow-up Prozess (2015 – 2020) genannt:

– Ausbau der Landesverfassung Baden-Württemberg bzgl. einer verstärkten Aufnahme von sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Grundrechten (Arbeit, Wohnen, Bildung und Gesundheit) analog dem Sozialpakt der UNO von 1966/67
– Ausbau der Zivilgesellschaft in Baden-Württemberg: Demokratie, Teilhabe und Partizipation
– Landesarmutskonferenz LAK-BW als regelmässig angehörte Institution in sozialpolitischen, kulturellen wie bildungspolitischen Gesetzesinitiativen etc. in Baden-Württemberg)
– Ombudsstelle (Landesbeauftragtenstelle) in Baden Württemberg zur Bekämpfung der Armut: neutrale und unabhängige Koordinierungsstelle bzw. Anlaufstelle für Menschen in Armutslagen, Koordinationsstelle Lobbyarbeit -. Lehre/Forschung – Sozialpolitik etc.
– Baden-Württemberg als aktives Bundesland im Bundesrat: Anpassung Regelsatz hartz IV auf Euro 500.- , Prüfung der Einführung Bedingungsloses Grundeinkommen, Start mit einer konsequenten Beseitigung der Familien- und Kinderarmut (menschenwürdiges Existenzsicherung),
– Änderung der Steuerpolitik in Deutschland: Besteuerung der Reichen statt fortgesetzter Armutspolitik
– Abschaffung der steigenden Altersarmut: sozialkulturelle Mindestrente statt verordneter Dauerarmut
– Nulltarif für Erhöhung der Mobilität von Menschen in Armutslagen, um am gesellschaftlichen Leben sich verstärkt zu beteiligen
– Zentren und Räume der Begegnung und Kommunikation für Menschen in prekären Lebenslagen/Armutslagen: Orte des sozialen Lernens – Wege aus der sozialen Exklusion; Engagement und Projekte für eine sozial-ökologische Bildung; für ein kreatives Leben anstatt ein Leben in Angst und Abhängigkeit
– Stärkung des Sozialen Wohnungsbau: Wohnen und Quartiersentwicklung
– Garantie auf Arbeit – bei einer Erwerbslosendauer von mehr als 36 Monaten – durch staatlich finanzierte Programme (gerechter Lohn, armutsfester Mindestlohn),
– Abschiebestopp von Flüchtlingen in Baden-Württemberg
– Aufnahmekontingente für Sinti und Roma aus Südosteuropa in Höhe von mindestens 5000 Personen bis 2020 als Wiedergutmachung für nationalsozialistisches Unrecht an dieser europäischen Bevölkerungsgruppe
– Reform des Strafvollzuges in BaWü, Abschaffung des Jugendstrafvollzuges in Baden-Württemberg
– Umsteuerung in der Drogenpolitik: Liberalisierung und Legalisierung weicher Drogen
– Inklusionsprogramme für Menschen am Rande der Gesellschaft: Beseitigung der Strassenobdachlosigkeit, Zentren der Soziokultur, kostenfreier Zugang zu gesundheitlichen Hilfen
– Keine Diskriminierung behinderter Menschen: Inklusion, Menschenrechte und soziokulturelle Existenzsicherung für Menschen mit Behinderungen
– Zuschüsse und Finanzierung von Organisationen im Armutsbereich zur dauerhaften Interessenvertretung und Erhalt der Selbstorganisation
– Aufnahme des Spannungsbogen Armut – Ungleichheit – soziale Gerechtigkeit in die Lehrinhalte von Schulen und Hochschulen in Baden-Württemberg
– Forschungsprojekte zu extremer Armut, Reichtum, Ungleichheit, Partizipation und politischer Beteiligung, Befähigung und Anerkennungskultur statt Ökonomisierung sozialer Dienstleistungen,
– Paradigmenwechsel in der Sozialen Arbeit: Hilfe und strukturelle Veränderung statt Mitbeteiligung an sozialstaatlicher Deregulierung.

Dieses Programm umzusetzen, bedeutet für die Landespolitik bzw. das gemeinsame Leben in Baden-Württemberg eine grosse Herausforderung. Wegzukommen von der mehrheitlich bestehenden Armutsverwaltung, hin zu Kampagnen der Bildung, der Befähigung von Menschen in Armutslagen.

Was wir brauchen sind Strategien der Einmischung, Strategien der Inklusion, Strategien der Hoffnung und breite gesellschaftliche Allianzen. Und dazu die entsprechenden materiellen wie qualitativen Ressourcen, generations- und gesellschaftsübergreifend.

Was wir nicht brauchen: Keine Fortschreibung des Ersten Armuts- und Reichtumsbericht 2015 in Baden-Württemberg.

Das Arbeitskomitee der
Landesarmutskonferenz LAK-BW
netzwerk 1

Weitere Berichte zum Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württemberg finden Sie unter http://www.statistik.baden-wuerttemberg.de/BevoelkGebiet/FaFo/Publikationen/Tagungsdokumentation.asp?AR_2014-10-09

Noch eine Rückmeldung zum Armuts- und Reichtumsbericht

Einladung zur Konferenz zum Ersten Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württemberg