Aktionswoche’21 Baden-Württemberg vom 18.-22. Oktober

Soziale Ausgrenzung durch Corona vermeiden
Folgen überwinden und Demokratie stärken


Armut, Ungleichheit und Ausgrenzung gehören auch zu den Merkmalen der reichen
Gesellschaften. Dies in Baden-Württemberg, Deutschland, Europa und weltweit. Die Covid 19-Pandemie hat diese Entwicklung noch beschleunigt. Sie sind – neben der gesundheitlichen Krise zu Merkmalen der Pandemie geworden.

Aufruf zur Aktionswoche’21

Die Coronakrise betrifft zwar alle, aber sie trifft armutsgefährdete Menschen besonders hart. Die
deutliche Zunahme von Armut, eine weitere Verschärfung und Verfestigung prekärer
Lebenslagen und sozialer Ausgrenzung drohen zu den Langzeitfolgen der Pandemie für unsere
Gesellschaften zu werden. Dies bestätigen einflussreiche Sozialwissenschaftler*innen, die sich
mit den Auswirkungen der Pandemie auf die gesellschaftlichen Verläufe/Verhältnisse beschäftigt
haben. Genannt seien stellvertretend Hartmut Rosa, Christoph Butterwegge, Stephan Lessenich
und Heinz Bude.
Menschen in Armut sind einem deutlich höheren Infektions- und damit Gesundheitsrisiko
ausgesetzt. Denn sie leben und arbeiten häufig in Feldern der gesundheitlichen, sozialen,
wirtschaftlichen wie kulturellen Gefährdung. Das Virus schlägt in Bereichen von Enge,
Wohnungsnot, sozialen Brennpunkten verstärkt zu. Die Fallzahlen sind überdurchschnittlich, die
Krankheitsverläufe schwerer und die Sterbezahlen höher. Die Corona-Pandemie macht nochmals
deutlich: Zonen der Armut sind Zonen erhöhter gesundheitlicher Gefährdung. So treffen
beispielsweise allzu häufig höhere Lärm- und Luftbelastung auf deutlich weniger Angebote der
medizinischen Nahversorgung.
Nicht zuletzt zeigt sich das auch daran, dass die Lebenserwartung der von Armut betroffenen
deutlich geringer ist als für den Durchschnitt der Bevölkerung.
2
Menschen in prekären Lebenslagen sind von den Auswirkungen der Pandemie nicht nur
gesundheitlich, sondern auch sozial und wirtschaftlich besonders hart betroffen. Die Zugänge zu
Infrastruktur, zu Bildung und Kultur, zu Grundversorgung und medizinischer Basisversorgung
sind ihnen ohnehin massiv erschwert. Jetzt in der Krise verlieren. sozial benachteiligte und
ausgegrenzte Menschen den Anschluss häufig völlig. Die Armut verfestigt sich weiter. Da gibt es
die Abgehängten, die Ausgegrenzten, die von Zwangssystemen der Bildung betroffenen Akteure.
Dies betrifft auch Kinder und Jugendliche, Familien und Freundeskreise wie Nachbarschaften
besonders hart. Nach weit über einem Jahr Pandemie – in immer wieder kehrenden Wellen –
steigt die Erschöpfung der Menschen mit der Pandemie umzugehen. Seelische und körperliche
Krisen nehmen zu. Die Zwänge zur Digitalisierung überfordern ins Unerträgliche und bauen
zusätzliche Zugangshürden auf.
Der gesellschaftliche Dialog verkürzt sich auf wenige Themen. Inzidenzzahlen werden Grundlage
für soziales Verhalten. Zahlreiche zivilgesellschaftliche Aktivitäten, in Vereinen, Organisationen
und Initiativen brechen zusammen, verschwinden einfach. Auch Initiativen von Menschen in
Armutslagen aufrecht zu erhalten, gelingt aus zahlreichen Gründen immer weniger. Es fehlt an
Kommunikation, Räumen, an Begegnung und Austausch. Dies führt zu Verlust von Vertrauen in
die eigene Zukunft und die Verlässlichkeit der unmittelbaren Umgebung. Zusätzliche
Existenzängste und Befürchtungen sind die Folge.
Die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie sind enorm. Sowohl der Verlust regulärer Arbeit als
auch der Verlust zahlreicher prekärer bezahlter Arbeit ist bei den von Armut betroffenen
besonders augenfällig.
Beschäftigungsverhältnisse am unteren Einkommensrand wie Minijobs etc. brechen in der
Pandemie weg. In der Statistik der Jobcenter tauchen diese 2 Millionen Jobs nicht auf. Kurzarbeit
von Millionen von Menschen ist Alltag. Bereits jetzt zeichnet sich ab, dass auf dem Arbeitsmarkt
langzeitarbeitslose Menschen die großen Verlierer der Krise sind. Für sie wird es noch
schwieriger eine reguläre Beschäftigung zu finden.
3
Folgen überwinden und Demokratie stärken
Armut, Ungleichheit und Ausgrenzung haben Auswirkungen auf die politische Beteiligung.
Menschen in Armut, in isolierten Quartieren, Menschen in Erwerbslosigkeit reagieren mit
Rückzug und Verweigerung. Pandemiebekämpfung ist zunächst eine Bekämpfung der
wirtschaftlichen Nöte einer globalisierten Industrie und Dienstleistung. Es verfestigt sich der
Eindruck, dass die Bedürfnisse und Interessen der von Armut und prekären Lebensverhältnissen
Betroffenen von den politischen Parteien nicht wirksam repräsentiert werden. So schwindet das
Vertrauen in das politische System. Bei der Überwindung der Pandemiefolgen muss daher ein
besonderes Augenmerk auch auf der Förderung und Stärkung der Beteiligung der von Armut
Betroffenen sowie der politischen Bildung legen.
Die beiden Netzwerke der Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg LAK-BW arbeiten seit
2012 aktiv an der Entwicklung und Stärkung der Partizipationsstrukturen für Menschen in
Armutslagen. Die jährlichen Aktionswoche „Armut bedroht alle!“ ist dafür ein sehr gutes
Beispiel. Den Fortbestand und die Stärkung der demokratischen Gesellschaft in und nach der
Pandemie gilt es in Baden-Württemberg zu sichern.
Die Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg fordert aus armutspolitischer Sicht folgende
notwendige Maßnahmen in der Krise der Pandemie und im Hinblick auf die gesellschaftlichen
Entwicklungen in Baden-Württemberg in den kommenden Jahren:
• Ausbau der Prävention im Bereich Soziales Jugend und Familie, Pflege, Gesundheit
(Pandemie, Grundversorgung, Infrastruktur)
• Gesundheit ist ein Menschenrecht und keine Ware: Kostenfreier Zugang aller Menschen
zum Gesundheitssystem. Zumindest sofortige Befreiung von Zuzahlungen von Menschen
in prekären bzw. vulnerablen Lebenslagen
• Fortschreibung des Armuts- und Reichtumsbericht aus dem Jahr 2015 unter
Berücksichtigung der Folgen der Pandemie
• Aufnahme der Themen Menschenrechte, Grundrechte, Zivilgesellschaft und Partizipation
in die Landesverfassung
4
• Gründung eines Menschenrechtsbüros Baden-Württemberg der LAK-BW
• Ausbau der Politischen Bildung für Menschen in prekären Lebenslagen in den
Institutionen der Erwachsenenbildung, in der Sozialen Arbeit, beruflichen Bildung,
Grundbildung etc.
• Ausbau der digitalen Teilhabe und Förderung des digitalen Kompetenzerwerbs aller
Alters- und Sozialschichten der Bevölkerung
• Einrichtung von Ombudsstellen in allen Stadt- und Landkreisen als Anlaufstellen und
Vertretung für Menschen in prekären Lebenslagen
• Unabhängige Erwerbslosenberatung in allen Stadt- und Landkreisen
• Förderung eines bezahlbaren sozialen Wohnungsbaus
• Wohnraumsicherung und Bekämpfung von extremer Armut wie Obdachlosigkeit
• Schutz von Minderheiten gegen jede Form der strukturellen Diskriminierung
• Antirassistische Grundpositionen und Förderung von entsprechenden Programmen
Soziale Ausgrenzung durch Corona vermeiden
Folgen überwinden und Demokratie stärken
Reader zur Aktionswoche zu folgenden Schwerpunkten:
Beteiligen – Befähigen – Unterstützen
Digitalisierung und Bildung
Krise als Chance bedeutet derzeit, das Gelegenheitsfenster, dass sich mit der Pandemie geöffnet
hat, für den Kampf gegen Armut kurz- und langfristig zu nutzen.
Armut ist unmittelbar mit Teilhabe verbunden. Partizipation bedeutet im Wesentlichen, Teilhabe
und Mitbestimmung als zentrale Kraft des gesellschaftlichen Miteinanders anzuerkennen. Es gilt,
Betroffene zu Beteiligten zu machen und sie als Experten ihrer Lebenslagen anzusprechen. So
kann nicht nur verhindert werden, an den Bedürfnissen und Bedingungen von Armut betroffener
Menschen vorbeizuplanen, sondern auch die Demokratisierung der Gesellschaft insgesamt
weiterentwickelt werden.
5
So können Kommunen Förderstrukturen zur Armutsprävention gemeinsam mit beteiligten
Akteurinnen und Akteuren aus benachteiligten Stadtteilen/Sozialräumen erarbeiten; und der
Bund und/oder das Land kann die digitale Ausstattung (Internetzugang) und die Befähigung zum
Umgang mit der Technik fördern.
Digitale Angebote könnten unter Berücksichtigung des Gebots der Niederschwelligkeit, etwa
durch den Gebrauch leichter Sprache, mithilfe von Apps zur Versendung von Unterlagen und
einer einfachen und schnellen telefonischer Erreichbarkeit ausgebaut werden.
Insbesondere bei Neuzugewanderten müssen aufsuchende Angebote und Zugänge über Social
Media durch sprachkundiges Personal ermöglicht werden.
Zentral ist der Ausbau des Angebots von Einrichtungen in den Quartieren: Familienzentren,
Familienbüros, Jugendzentren, mehr „Streetworker“ und Quartiersarbeiter*innen, die
Entwicklung von Patenmodellen und die Gewinnung von Ehrenamtlichen aus den Milieus der
Adressaten*innen, was wiederum zu einem Zuwachs an Vertrauen bei den Adressaten*in z.B.
gegenüber Ämtern und Fachkräften führen kann.
Die Umkehr von „Abwärtsspiralen“ in benachteiligten Quartieren sowie die Bekämpfung von
lokalen Armutslagen muss als selbstverständliche Daueraufgabe angenommen und umgesetzt
werden. Ein erweiterter Bildungsbegriff kann die exkludierende Wirkung des tradierten
Bildungsverständnisses überwinden. Die stärkere Verankerung eines weiten Bildungsbegriffes in
der kommunalen Bildungsplanung würde es zukünftig auch in Ausnahmesituationen erlauben,
Räume für neue Bildungsprozesse offenzuhalten, zu koordinieren, zu unterstützen und
so eine weitgehende Aufrechterhaltung des „Bildungsbetriebs“ zu ermöglichen
Arbeit
Die Pandemie hat massive Auswirkungen auf die Wirtschaft und den Arbeitsmarkt. Dem hat die
Politik verschiedene konjunkturelle, arbeits- und sozialpolitische Maßnahmen entgegengestellt.
Insbesondere die Kurzarbeit wurde in nie gekanntem Ausmaß in Anspruch genommen und hat
ohne Zweifel in vielen Fällen Arbeitslosigkeit verhindert. Die Folgen der Krise sind auch auf dem
Arbeitsmarkt deutlich erkennbar und sie treffen vor allem Menschen in Armutslagen. So sind seit
6
Beginn der Krise trotz der politischen Maßnahmen Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung
massiv angestiegen. Besonders betroffen sind Menschen, die vor der Krise prekär beschäftigt
waren und dann diese Jobs verloren; sei es im Niedriglohnbereich, in Leiharbeit oder auch in
geringfügiger Beschäftigung. Zudem wurden überdurchschnittlich häufig Beschäftigte ohne
formalen Berufsbildungsabschluss arbeitslos. Für sie wird die Überwindung der Arbeitslosigkeit
besonders schwer. Denn gleichzeitig beeinflusst die andauernde Krise die Wahrscheinlichkeit
einen neuen Job zu finden. Unternehmen stellen weniger ein, ganze Branchen liegen brach.
In der Folge sind immer mehr Menschen immer länger arbeitslos. So erreichte die
Langzeitarbeitslosigkeit in Baden-Württemberg ein Langzeithoch. Im April 2021 waren 85.780
Menschen und damit jeder Dritte gemeldete Arbeitslose langzeitarbeitslos, konnten also seit über
12 Monaten keine Beschäftigung finden. Langzeitarbeitslosigkeit droht sich dauerhaft zu
verfestigen. Besonders bedrohlich ist die Lage für diejenigen, die bereits vor Corona
langzeitarbeitslos waren.
Diese Entwicklung muss Sorge bereiten, denn Langzeitarbeitslosigkeit ist eine der
Hauptursachen für Armut, Gesundheitsgefährdung und soziale Exklusion und hat weitreichende
Auswirkungen, auch auf die Angehörigen der Betroffenen bspw. Kinder und Jugendliche in den
Bedarfsgemeinschaften. Kinder und Jugendliche in Haushalten, in denen die Erwachsenen im
Leistungsbezug leben, sind stärker als andere gefährdet, einmal selbst von Grundsicherung leben
zu müssen.
Auch auf dem Ausbildungsmarkt zeigen sich die Auswirkungen der Pandemie. Die neu
geschlossenen Ausbildungsverträge erreichten im letzten Ausbildungsjahr ein Rekordtief. Auch
in diesem Ausbildungsjahr setzt sich dieser Trend fort. Viele Jugendliche bleiben bei der Suche
nach einem Ausbildungsplatz unversorgt. Jugendliche, die bereits vor Corona keine oder nur mit
Unterstützung eine Lehrstelle finden konnten, brauchen mehr denn je eine Hilfestellung, um den
Übergang von der Schule in den Beruf zu bewerkstelligen. Damit sie nicht dauerhaft zu
Verlierer*innen auf dem Ausbildungsmarkt werden, braucht es strukturelle Änderungen und
staatliche Antworten dort, wo der Markt versagt.
7
Es gilt, dass junge Menschen ein Recht auf Bildung haben, und diese endet nicht mit dem Ende
der Schulpflicht. Auch eine betriebliche oder schulische Ausbildung ist ein im wahrsten Sinn
existentieller Teil von Bildung. Daher braucht es neben einer Stärkung bewährter Ansätze eine
gesetzliche Verankerung einer Ausbildungsgarantie.
Gesundheit
Gesundheit und Armut stehen in einem engen Zusammenhang. Menschen, die von Armut
betroffen sind, haben deutlich größere Gesundheitsrisiken und eine kürzere Lebenserwartung als
Menschen aus anderen Einkommensschichten. In diesen Zeiten der Pandemie besteht
insbesondere für Kinder aus armen Familien ein erhöhtes Gesundheitsrisiko. Benachteiligung
und Armut sind häufig verbunden mit schlechteren Bildungschancen. Zwischen
Bildungschancen und Gesundheit besteht ebenfalls ein enger Zusammenhang. Benachteiligte
Menschen haben teilweise nicht die gleichen Zugangschancen zum Gesundheitswesen. Dies
betrifft insbesondere wohnungslose Menschen beziehungsweise Menschen ohne legalen
Aufenthaltsstatus oder mit ungeklärtem Versichertenstatus. Für viele benachteiligte Menschen
stellen u.a. der Zugang zu Impfungen, Zuzahlungen und Kosten für nicht verschreibungspflichtige
Medikamente eine sehr hohe Anforderung und teilweise Überforderung dar. Ihre Informationsund Kommunikationsmöglichkeiten können im Gesundheitswesen eingeschränkt sein.
Investitionen in Bildungsgerechtigkeit sind z.B. eine Investition. Die Zusammenhänge zeigen
Gesundheit und Bildung zeigen, dass das Thema Gesundheit in der Pandemie nicht allein aus
der Perspektive des Gesundheitswesens und der Gesundheitspolitik gesehen werden kann. Das
Gesundheitswesen könnte noch so gut mit Ressourcen ausgestattet werden. Es wird diese
Zusammenhänge zwischen Armut – Bildung – Gesundheit – Benachteiligung nur begrenzt
verändern. Im Gegenteil – das Gesundheitswesen und seine Akteure sind häufig Auffangbecken
für soziale Nöte von Menschen – sei es Einsamkeit, Arbeitslosigkeit, fehlende Beheimatung oder
das Risiko, abgeschoben zu werden. Dies wurde innerhalb der Lockdown-Phasen im
vergangenen und diesem Jahr immer wieder d