Erklärung der Landesarmutskonferenz zum vorliegenden Armuts- und Reichtumsbericht BW vom November 2015

„Es ist genug!…genug für alle!“Logo LAK
Wir haben bewusst gewartet bis die Landtagswahlen in Baden-Württemberg vom 13. März 2016 um sind. Diese bringen zum einen eine politische Wende in unserem Land. Zum anderen bestätigen sie, dass es total falsch war den Armutsbericht erst Ende November 2015 zu veröffentlichen und ihn damit aus dem politischen Diskurs der grün-roten Landesregierung und dem Landtagswahlkampf herauszuhalten. Man hatte den Eindruck wie wenn es diesen Bericht in Baden-Württemberg nicht gäbe. Bei offensiven Umgang mit dem Armutsbericht z. B. ein Jahr früher ab dem Herbst 2014 hätte sich ein anderer gesellschaftlicher Diskussionsstand entwickelt. So bestätigte sich wieder einmal: Armut versteckt sich, Armut wird versteckt. Weil es in einem reichen Bundesland keine Armut geben darf. Und es gibt Armut unübersehbar, und es gibt sie dauerhaft, und es gibt sie in vielfältigen Formen: Vom Skandal Kinderarmut bis zum wachsenden Skandal von Armut im Alter.

Der Armutsbericht liegt seit Ende November 2015 in Baden-Württemberg vor. Die Landtagswahlen am 13. März 2016 haben für die rechtsgerichteten Parteien ein knallhartes Wahlergebnis gebracht, von landesweit 15,1 % für die AfD mit 809311 Stimmen. Bei der Zusammensetzung der Wählerschaft fällt auf, dass die AfD eine breite Zustimmung bisheriger Nichtwähler sowie eine Zuwanderung von bürgerlich-konservativen Wählern der CDU wie von bisherigen Wählern der SPD erreicht hat. Weitere politisch rechte Wählerschaft bleibt 2016 unbedeutend, sodass die AfD das breite Sammelbecken dieses politischen Milieus bildet.

Dieses Ergebnis – vergleichbar mit Sicherheit auch mit den Wahlergebnissen und Wählermobilisierungen in den Bundesländern Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt – zeigt die massive politische Entfremdung von den sozialen Milieus der etablierten Parteien. Besonders augenscheinlich ist die Entfremdung von den traditionellen Milieus der politischen Linken, der SPD und der Linkspartei. Sie bieten keine politische Heimat für enttäuschte Wählergruppen oder gar für die bisherigen Wahlverweigerer.

Die Fortsetzung der Agenda-Sozialpolitik führt zu weiterer Verarmung – Ungleichheit und Prekarität. Dieser Prozess verbindet sich mit dem Phänomen der wachsenden Angst vieler Menschen vor dem sozialen-kulturellen Abstieg.

Die Armutsökonomie in Form von Tafeln, Kleiderläden, Wärmestuben, Suppenküchen, Vesperkirchen, Pflasterstuben, Notübernachtungen, des Kälte- und Erfrierungsschutzes etc. nimmt weiter zu. Zwischenzeitlich erreicht das Hilfsangebot der Tafeln etwa 1,5 Millionen Menschen bundesweit. Dieser blamable Wachstumstrend ist ungebrochen. Die Unterversorgung im gesundheitlichen Bereich setzt sich massiv fort.
Die Bildungsferne breiter Bevölkerungsgruppen ist weiter gestiegen. Gesellschaftliche Teilhabe und Partizipation sind für Menschen in Armutslagen weitgehend Fremdwörter geblieben.

Arme und Bedrohte, gesellschaftlich Marginalisierte und Menschen in extremer Armut konkurrieren mit Flüchtlingen im Verteilungskampf um die sozialstaatliche Leistungen bzw. um die Hilfen der Armutsökonomie. Die Kosten der Flüchtlingsintegration verbleiben nach derzeitigen Regelungen zu 80 % bei den Bundesländern und Kommunen. Nach den Rückmeldungen der kommunalen Spitzenverbände – auch in Baden-Württemberg – wird sich der Verteilungskampf besonders auf der kommunalen Ebene abspielen.
Dies bedeutet einen Verteilungskampf unmittelbar auf der Ebene der Städte, Gemeinden und Landkreise. Die Gemeinden, Städte und Landkreise haben diese Integrationskosten im besonderen Ausmaß zu stemmen. Zu wessen Lasten werden die exorbitanten Kosten gehen?

Wir möchten davor warnen diese Kostenentwicklung zu bagatellisieren und sie letztlich klammheimlich auf dem Rücken der betroffenen Bürger auszutragen. Dies bedeutet, dass wir dringend eine Diskussion auch in Baden-Württemberg darüber brauchen, wie sollen die Lösungen aussehen, wenn es für alle reichen soll.
Ohne Änderungen bei den Steuern für die Reichen, die Besteuerung von Vermögen, die Besteuerung der Börsenspekulation, die Besteuerung massiver Gewinne und hoher Einkommen wird es nicht gehen.
Unsere Forderungen zu Beginn der politischen Prozesse um den Armutsbericht 2012, die gesellschaftlichen Verhältnisse von Armut – Ungleichheit – Prekarisierung zu diskutieren, ist im Armutsbericht unterblieben. Insofern fehlt dem Armutsbericht die politische Vision insgesamt. Vieles ist dort positiv analysiert und diskutiert, auch die Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen ging neue Wege.

Doch was am Ende fehlt, ist die Offenheit einer Diskussion über die gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Frage in welcher Gesellschaft wollen wir leben, die Diskussion der Gerechtigkeitslücke, die Debatte um die Ungleichheit, die Frage, wie sich globaler Frieden erreichen lässt, wie sich Krieg und Gewalt eindämmen und verhindern lassen, all diese Fragen sind nicht gestellt.
Dies wäre eine klare Antwort auf den rechten Populismus, der jetzt in die deutschen Parlamente einzieht. Es bildet sich eine politisch rechte Front in Europa von Frankreich, Belgien, Deutschland, der Schweiz, Österreich, der Slowakei, Polen, Ungarn, Griechenland, bis England, Dänemark, Schweden, Finnland.

Die Landesarmutskonferenz LAK-BW hat sich am 12.12.2015 und am 16.01.2016 ausführlich mit dem vorliegenden Armutsbericht auseinandergesetzt. Durch die intensive Mitarbeit im Präventionsbeirat zur Erstellung und Begleitung des Armutsberichts sowie unserer eigenen Mitwirkung am Bericht unmittelbar besteht eine hohe Identifikation mit dem vorliegenden Bericht. Dennoch bleiben wir hinsichtlich der Konsequenzen aus diesem Bericht skeptisch.

Wir formulieren unsere Einschätzungen in Thesen:

• Wir begrüßen den Ersten Reichtums- und Armutsbericht in Baden-Württemberg, weil er mit der bisherigen mangelhaften bzw. fehlenden Armutsberichterstattung in Baden-Württemberg Schluss macht. Wir erwarten die weitere kontinuierliche Armutsberichterstattung in Form eines Armutsbericht pro Legislaturperiode des Landtags.

 

• Der Beschluss des Landtages 2012, die Lage von Familien und Kindern in BaWü schwerpunktmässig zu untersuchen, erweist sich in der Rückschau als richtig, weil damit exemplarisch ein gesellschaftlicher Bereich die entsprechende politische Beachtung in der Sozialpolitik Baden-Württembergs erlangt hat.
• Positiv im Bericht ist, dass er zentrale Alltags- und Lebensbereiche bzw. Lebenslagen einbezieht: Arbeit, Erwerbslosigkeit, Gesundheit, Bildung, Behinderung, Teilhabe, Wohnen, soziale Exklusion. Diese Bereiche gilt es in einem weiteren Armutsbericht zu vertiefen und daraus Handlungsperspektiven für die Sozialpolitik und Gesellschaftspolitik in BaWü zu formulieren bzw. abzuleiten.
• Im Armutsbericht stehen Kapitel zur sozialen Exklusion und extreme Armut. An diesen Kapiteln haben wir in verschiedener Hinsicht mitgewirkt. Diese Lebenslagen wären per Forschungsprojekt zu untersuchen, da neben der allgemeinen Armutsgefährdung (materiell bei 15,2 %)die langsame, aber messbare Zunahme sozialer Ausgrenzung, Deklassierung und absoluter Armut (40 % des Median des Durchschnittseinkommens) auch in Baden-Württemberg vorliegt. Ebenso müsste sich ein Forschungsprojekt der zukünftigen Armutsberichterstattung (2016 – 2021) mit den stetig wachsenden prekären Lebenslagen auseinandersetzen.
• Die Stellungnahmen der einzelnen Beiratsmitglieder lesen sich in der Gesamtheit differenziert, aber auch in diverser Hinsicht als eine Wiederholung bereits bekannter Positionen. Auffallend war für uns, dass die Positionen des Arbeitgeberverbandes keine Sensibilität in Armutsfragen verraten, sondern die Illusion verbreiten mit traditionellen Mitteln Verbesserungen in der Beschäftigungspolitik bzw. eine Reduktion der Langzeiterwerbslosigkeit zu erreichen.
• Die Ausführungen und Forderungen der LAK-BW werden zwar im Bericht durch das Sozialministerium richtig zusammengefasst (SM fasst den Teil B zusammen), aber in den follow-up’s des SM (Teil C) finden sie keine gesonderte Berücksichtigung. Wie wenn es die Kapitel extreme Armut und Exklusion als auch die zahlreichen Einzelvorschläge der LAK-BW im Bericht nicht gäbe. Was ist der Grund? Unsere Vorschläge verlassen den üblichen Rahmen sozialpolitischer Justierungen bzw. Korrekturen. Wir fordern einen Paradigmenwechsel in der Sozialpolitik: Unmittelbare politische Korrekturen in der Sparpolitik/Austeritätspolitik der Agenda 2010 (Stopp der Altersarmut, der sozialstaatlichen Demontage etc) und Aufbau von Plattformen der politischen wie soziokulturellen Mobilisierung der Menschen in prekären Lebenslagen bzw. in Armutskontexten.
• Die Vorschläge des Sozialministeriums verzichten auf die Installierung einer Ombudsstelle auf Landesebene zur Koordinierung der Armutspolitik und ihrer Verankerung in den sozialen Bewegungen; der Ausbau der menschenrechtlichen Orientierungen (in der Landesverfassung) in einzelnen Lebensfeldern unterbleibt vollkommen. Auf solche Forderungen gibt es keine Reaktion der Landesregierung, nicht einmal eine Diskussion wird eröffnet.
• Es fehlt ein Kapitel mit der Frage der Implementierung der Bereiche Armut – Ungleichheit – Prekarität die Studieninhalte bzw. Forschungsbereiche der Hochschulen. Ein Forschungsprojekt zur Klärung von Inhalten der Module in Studiengängen könnte hier weiterhelfen.
• Insofern greifen wir unsere Idee und Forderung erneut auf:
Aufnahme und Ausbau von sozialen und kulturellen Grundrechten in der Landesverfassung Baden-Württemberg
Schaffung einer Ombudsstelle für Armutsfragen die genau diese gesellschaftliche Diskussion fokussiert und offen thematisiert
Würdigung unserer gemachten Vorschläge im Armutsbericht als notwendiger gesellschaftlicher Diskussion
• Der Beirat ist ein Teil des Diskurses, die Organisationen im Beirat sollten unter Federführung des Ministeriums einen gemeinsamen strategischen Ratschlag durchführen. Dann ginge der Blick über die Analyse und Deskription in Richtung Perspektiven und Prioritäten.

Die LAK-BW – Arbeitskomitee
Heidelberg am 19. März 2016