Extreme Armut und Exklusion – 3. und letzter Teil des Armuts- und Reichtumsbericht des Statistischen Landesamtes

Frau Dr. Saleth (Statistisches Landesamt) stellt am 19. Februar 2016 den letzten Teil des Logo_SM_160x80.15Armutsbericht 2015 vor. Schon aus den ersten Worten ergibt sich, dass Armut = Ausgrenzung bedeutet. Finanzielle Grenze ist für eine erwachsene Person in BW 962 €, für 2 Erwachsene mit 1 Kind sind es 2000 €. Jedoch ist der Begriff Armut relativ. Sozialwissenschaftlich ist Armut im weiteren Sinn als Mangel an Teilhabe- und Verwirklichungschancen zu verstehen. Und weiter: „ Nach dem sog. Lebenslagenansatz … stehen nicht nur die Einkommenslage und die Vermögenssituation im Mittelpunkt, sondern weitere Bereiche wie Erwerbstätigkeit, Gesundheit, Bildung, Wohnen, fam. Beziehung, soziale Netzwerke oder politische Chancen und Partizipation.“ Besonders Kinder und Jugendliche sind diesem kritischen Umfeld ausgesetzt. Sie unterliegen Diskriminierung, Stigmatisierung, Freundschaften über das soziale Umfeld hinaus sind kaum möglich. Dazu gesellen sich die schulischen „Karrierefaktoren“. Bildung: Oft Abbruch oder schlechte Ergebnisse.
Sofort wird auf ein Manko hingewiesen: Das Messen der relativen Armut, sprich Teilhabe an Kultur, gesellschaftlicher Einbindung, dem persönlichen Ausgrenzungsgefühl usw. sei nicht möglich. Dazu seien die finanziellen Mittel viel zu gering; der Aufwand zur statistischen Erfassung sehr hoch.
Zudem arbeitet Frau Saleth den Zusammenhang zwischen der Qualifikation der Eltern und deren Kinder heraus. Migrantischer Hintergrund bei gleicher Qualifikation führe zu stärkerer Armutsgefährdung. In BW gibt es ca. 1 Million Analphabeten (funktional = verdeckte Armut). Nicht gesundheitsversichert seien offiziell 137000 Personen. (Die Rate wird aber erheblich höher eingeschätzt.)
Je länger ein Betroffene/r erwerbslos ist desto höher das Armutsrisiko – bis über 70 %. Dies führt zu atypischen Beschäftigungen. Auch die Frauenquote ist mit über 70 % signifikant.

Wohnen Oftmals ist die Wohnraumgröße nicht ausreichend. Das Wohnumfeld ist prekär: soziale Randgruppen, Bausubstanz ist fraglich, Ghettoisierung, zu enger Wohnraum. Es besteht ein Wechselverhältnis zwischen Armut und Wohnungslosigkeit.
Der Kostenfaktor für Wohnen erreicht bis zu 43 % vom Einkommen. Auch Energiekosten werden zu oft vernachlässigt. Dies führte und führt zu zahlreichen Abschaltungen. So wurden in 2013 in BW rund 50000 Haushalte von der Energie gekappt.
Im Bereich der Ehrenämter und Partizipation gibt es seitens Armer kaum Engagement. Dies träfe auf über 80 % zu. Andererseits engagieren sich lediglich ca 40 % der „Gutsituierten“.
17,1 % der Personen über 65 Jahre sind von überdurchschnittlicher Armut betroffen – das sind ca 355000 Menschen.
Migranten: Jede 4. Person in BW ist betroffen = 688000 bzw. 24,1 %
Gesundheit   Armut macht krank – Krankheit macht arm
Ergo, eine Wechselwirkung zwischen sozialer und gesundheitlicher Lage. Menschen mit gesundheitlichen Einschränkungen haben ein größeres Risiko dauerhaft in Erwerbslosigkeit zu verharren. Negative Auswirkungen durch mangelndes subjektives Wohlbefinden wegen Einkommensarmut, Erwerbslosigkeit, Mindestsicherungsbezug. Auch die Lebenserwartung sinkt im Vergleich.
Einkommens- und Vermögensungleichheit, ihre Wahrnehmung und mögliche Wirkungen in der Gesellschaft
Bei Einkommen und Vermögen seien zu gleiche oder zu ungleiche Verteilung unstrittig, ansonsten seien die Entwicklung der Wirtschaft und der Zusammenhalt der Gesellschaft gefährdet.
„Ein Mindestmaß an Ungleichheit ist für eine leistungsfähige Volkswirtschaft unerlässlich, um die Teilhabe möglichst vieler Personen zu sichern und den wirtschaftlichen Fortschritt zu ermöglichen“. Grundsätzlich aber sei Ungleichheit nicht genau zu bestimmen, es hänge zudem entscheidend davon ab, wie das Einkommen/Vermögen zustande kam und wie es verwendet wird. „Man“ ist zufrieden, entscheidende Änderungen sind unnötig bzw gefährlich.

Der Sachverständigenrat (SVR) und die OECD sehen das gesellschaftliche Problem bei den Entwicklungen im unteren Einkommensbereich, denn „den größten negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum habe nicht die Ungleichheit am oberen Ende“, sondern „für den besser gestellten Rest der Bevölkerung verantwortlich“.
Mögliche Maßnahmen zur politischen Verantwortung seien steuerliche Belastungen höherer Einkommen. Wiederherstellung von Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit, die möglichst gleiche Startbedingungen für alle schafft und so Mobilität innerhalb der Gesellschaft ermöglicht.
(Kommentar: Dies sind Brandt’sche Sozialansätze aus den frühen 1970ern. Durch prokapitalistische Politik der Kohl-Regierung wieder zunichte gemacht worden. Wiederholt sich Geschichte?)

„Letztendlich bleibt es eine politische Entscheidung, wie viel ökonomische Ungleichheit die Gesellschaft vertragen soll. Eine demokratisch verfasste Gesellschaft zeichnet sich zudem darin aus, wie sie das Ausmaß der Ungleichheit legitimiert. Hier geht es weniger darum, ob eine ökonomische Ungleichheit gut oder schlecht ist. Um dies zu klären, bedarf es eines eindeutigen Maßstabes, den es jedoch nicht gibt. Bei der Legitimation geht es deshalb weniger um solche Prinzipien wie der Kopplung von Leistung und Verdienst, Chancengleichheit und Verteilungsgerechtigkeit, als mehr um das Verfahren, wer im politischen Willensbildungsprozess – vor allem bei Entstehung und Beratung von Gesetzen – welchen Einfluss ausübt über das Ausmaß von Ungleichheit.“