Zusammenfassende Notizen zu der Gesprächsarena Nr. 3 Sozioökonomische Lage von Ethnien am Beispiel Sinti-Roma / Jenische am 04.06.2025, Stuttgart

 

Dieser Workshop wurde in zwei Runden an diesem 4.6.25 von rund 60 Leuten besucht, darunter von 5 französischen Freunden aus dem Elsass.

Den Workshop haben geleitet: Doris Kölz und Roland Saurer

Aktive im Workshop in beiden Runden waren:

Bei den Sinti Roma: Frau Cecile Reinhardt, Mulhouse und Frau Jane Simon, Offenburg

Bei den Jenischen: Klaus Vater aus Bonn und Renaldo Schwarzenberger aus Ichenhausen/Bayern

Die GesprächspartnerInnen und die VertreterInnen der Volksgruppen wurden von Roland Saurer motiviert, nach Stuttgart zu kommen und diese Gesprächs-arena Nr 3 zu gestalten.

 

In der Vorbereitung zu dieser Gesprächsarena haben wir vorgegeben, die sozioökonomische Lage der Ethnien nach folgendem Muster zu erörtern:.

  • soziale Lage
  • Ökonomische Lage
  • Kulturelle Lage
  • Historische Lage
  • Politische Lage
  • Wissenschaftliche Lage.

 

Den Start machten nach einer kurzen Einführung in die Gesprächsarena die beiden Vertreterinnen der Sinti-Roma.

Zusammenfassung der von Fau Jane Simon eingebrachten Perspektive:

In ihrem Leben sei kennzeichnend gewesen, dass es immer ein Kampf zwischen Ausgrenzung und Emanzipation bedeutet hat. Eine zentrale Rolle spiele offensichtlich die Bildung, auch logisch der Zugang zu Bildung. Sie sei in Saarbrücken geboren, habe in der Regel im Wohnwagen gelebt, sei nirgends sicher gemeldet gewesen, so sei sie erst mit 20 Jahren aus dem Zustand des Analphabetismus gestartet. Ihre Mutter sei ein Leben lang Analphabetin geblieben. Fragen müsse man sich, wo den Teilhabe gesichert sei, wo denn Empowerment ermöglicht wird. Sie habe über den Raum Karlsruhe den Raum Offenburg erreicht. Dort sei sie Vorsitzende eines Sinti-Roma-Kulturvereins. Sie habe auch internationale Beziehungen, habe über lange Jahre in diesem Landesverein Sinti-Roma e.V. verbracht, sei auch nach dem Staatsvertrag zwischen Sinti-Roma und dem Land Baden-Württemberg in diesem Landesbeirat beim Staatsministerium gewesen. Ihre Erfahrungen seien vielfach  Repression und der Rassismus, bis heute. Auch bei den Behörden. Unverzichtbar sei deswegen die politische Einmischung und das Erreichen einer Selbstmandatierung. Zur Forschungsfrage sei klar, die sei in mehrfacher Hinsicht nicht ausreichend. Sie habe als Geschäftsfrau eine privilegierte Position, die sei aber untypisch. Sie selbst sei bereit, die Zusammenarbeit mit der Forschung zu unterstützen. Denn alle Bewegungen brauchen Hoffnungsträger, so dass die anderen Gruppenmitglieder den Sinn der Politischen Ziele begreifen würden.

Die Herkunft der Sinti-Roma sei ja einigermaßen klar. Die Stämme hätten sich mit anderen Regionen vermischt, die Sprache sei auch entsprechend ausdifferenziert worden. Die handwerklichen Fähigkeiten der Roma seien besonders zu betonen. Die Sprache des Romanes zu sprechen sei Jahrhunderte nicht offen möglich gewesen. Die Verfolgung der Sinti-Roma ziehe sich über Jahrhunderte hin, habe jedoch in der Zeit des Nationalsozialismus ihren Höhepunkt erreicht. Auschwitz-Birkenau mit etwa 500 Tausend ermordeten Sinti-Roma sei das Schlimmste, was den Sinti-Roma jemals zugefügt wurde. Sie selbst habe auch Angehörige in der Zeit des NS-Staates verloren. Als sie im vergangen Jahr 2024 zu „80 Jahre Deportationen nach Auschwitz“ selbst in Auschwitz gewesen sei, da sei es ihr schon sehr schwer gefallen, damit umzugehen. Die Rolle der Frauen bei den Sinti-Roma sei auch einer besondere. Sie führte das aber nicht näher aus.

Auf die Frage, was es denn besonders brauche, da meinte sie, man müsse einen maximalen Kampfgeist entwickeln.

Zusammenfassung der Ausführungen von Frau Cecile Reinhardt

Die Ausführungen von Frau Reinhardt wurden von Marc Issele und von Michel Muller übersetzt. Frau Reinhardt lebte bis zum 8. Lebensjahr im Wohnwagen. Auch fern der Schule. Sie ist ein Teil der französischen Manouches, so werden dort die Sinti-Roma genannt. Sie hat Kontakt zum Weltbürgerhaus Mulhouse, dort zu einer Arbeitsgruppe der Bewegung 4. Welt (Quatre Monde).

Sie verwendete den Begriff „farblos“ für Armut. Vielleich sollte das bedeuten, dass Armut nicht sichtbar wird in der Gesellschaft. Jedoch sprach sie auch von Armut und damit verbundener Ausgrenzung. Das setze sich in den Schulen und im Leben fort. Man gehe in Frankreich von etwa 400 Tausend Manouches aus.

Zahlen gibt es keine zu Minderheiten in Frankreich, weil der Staat argumentiert, man habe keine Zahlen, da alle Franzosen gleich seien. Den Sinti-Roma hängt die Bezeichnung „Reiseleute“ an. Sie leben vielfach nur von dem handwerklich erzielten Einkommen, vom Antiquitätenhandel, vom Betteln. Frau Reinhardt sagt, es brauche weiter den Druck # von unten auf die Gesellschaft. Auch die Bündnisse über die Grenzen.  (Weltbürgerhaus/Landesarmutskonferenz Baden-Württemberg?)

Wirtschaftlich leben viele nur mit dem französischen Mindesteinkommen, für sie besteht auch eine gesonderte Krankenversicherung, die nur minimale Leistungen absichert.

Es gab dann noch Ausführungen von Roger Winterhalter, der 23 Jahre lang Bürgermeister in Mulhouse-Lutterbach gewesen ist. Zu seiner Politik gehörte die Unterstützung der Manouches. Er schilderte auch die Ghettoisierung der Manouches in der Zeit der Besetzung in Frankreich. Auch ihre Reglementierung und Vertreibung auf französischem Boden. Davon hatte bereits auch Frau Reinhardt gesprochen, dass es zahlreiche Versuche in Frankreich gibt, wo Kommunen die Rechte von Manouches einschränken, ihnen den Standort im Ort verweigern, ihnen ihre Gewerbe versagen.

Was offen bleibt: Gibt es eine nationale Anerkennung als Minderheit, damit auch einen gewissen Minderheitenschutz? Wie ist das mit der schulischer Förderung und dem Zugang zu Bildung für Kinder und Jugendliche der Manouches? Wie sieht die Alterssicherung der Manouche aus? Wie ist das mit politischer Vertretung der Manouches in Frankreich? Was und wie wählen Manouches in Frankreich? Wie viele der Manouches sitzen Gefängnissen?

 

 

 

Diese Gesprächsarena hatte auch einen 2. Teil: Die Stellungnahmen der Vertreter den Jenischen, Klaus Vater und Renaldo Schwarzenberger.

 

Ausführungen von Renaldo Schwarzenberger, Zentralrat der Jenischen:

Der jenische Mensch ist ein Mensch der Familie, des Sozialen, der Gemeinschaft. Das alles gehört zu seiner Kultur. Der Zusammenhalt und die gemeinsame Sorge gilt den jungen Menschen bei den Jenischen, aber auch den Alten, die niemand zurücklässt. Die Jenischen waren mobile, ambulante Händler, die ständig unterwegs waren. Auch er lebte lange Jahre so. Sie waren fahrendes Volk, sie waren als Nachrichtentransporteure unterwegs, als Heiratsvermittler.

Sie werden um 1250 erstmals erwähnt. Sie besitzen eine eigene Sprache, die Elemente des Rotwelsch in sich trägt.

Diese eigene Sprache erfährt keine Förderung heute, die Sprache wurde generationenhaft unterdrückt und in der Nazizeit bekämpft. Jenische soll es in Frankreich rund 500 Tausend geben. Deutsche Zahlen liegen mir nicht vor.

Ohne Zweifel ist ihr Leben vielfach eine Kombination von Armut und Diskriminierung gewesen. Besonders in der NS-Zeit, wo die Jenischen zum Teil in den Konzentrationslagern gelandet sind, ihnen das Fahren 1938 verboten wurde.

Die Gesellschaft trägt eine soziale und politische Verantwortung für diesen Zustand. So ist unverständlich, dass es bis heute keine Anerkennung dieser Volksgruppe gibt. Ähnlich der Anerkennung der Sorben, Dänen, Friesen und der Sinti-Roma.

 

Ausführungen Klaus Vater, Jenischer und Buchautor

Die wissenschaftliche Beschäftigung bestand im Wesentlichen darin, dass die Rassentheorie versucht hat, den Jenischen einen angeboren Wandertrieb zu unterstellen. Sie am Ende in der NS-Zeit als Angehörige der sog. Asozialen eingestuft hat. Dies dauerte rund 30 Jahre von 1900 bis 1930. Der Nationalsozialismus verschärfte durch seine Gesetzgebung dieses Rassendebatte bzgl. der Jenischen.

Ihre Lebensweise blieb immer eine Lebensweise an den Rändern der Gesellschaft. Oft hin und her geschoben von einer nationalen Grenze über die andere. Leben sozial am Rande, in Nissenhütten unter katastrophalen hygienischen Bedingungen, fernab von Schule und Integration.

Forschung heute: eine totale Fehlanzeige. Bis auf ganz wenige Ansätze hält sich das Vorurteil, die Jenischen sind keine eigene Volksgruppe, die es anzuerkennen gilt. Klaus Vater berichtet von einer parlamentarischen Anfrage in NRW an die dortige Landesregierung, was denn zu den Jenischen zu sagen wäre. Trotz umfangreicher Bemühungen auf mehreren Ebenen war am Ende auch das Ergebnis ernüchternd: man wisse nichts über die Jenischen in NRW.

Klaus Vater berichtet, dass er selbst erst spät seine Zugehörigkeit zu den Jenischen begriffen hat. Per Zufall bei einer familiären Begegnung.                        Diese Ausgrenzung der Jenischen lasse sich bis zu Anfang des 19. Jahrhunderts im Rheinland zurückverfolgen. Der Kapitalismus zerstörte die jenische Kultur. Er verbietet den Jenischen ihre traditionellen Gewerbebereiche. Verbietet ihnen das Sammeln von Schrott und Eisen.

Besonders schlimm war die Situation nach 1918 als das Rheinland französisch besetzt war. Es herrschte Armut und Hunger unter den Jenischen. Nur dort wo die Jenischen Anteil am Bergbau hatten, konnten sie überleben und waren geachtet. Da gab es keine gesellschaftliche Spaltung unter den Bergleuten.

Zentrales Ziel der Politik der Jenischen ist ihre Anerkennung als nationale Minderheit. Ihr Zugang zu Bildung, Wohnen, zum Erwerbsleben ohne Auflagen und Beschränkungen. Man sehe ja, dass die Anerkennung der Jenischen in der Schweiz – über lange Jahre erstritten  –  auch ein Erfolg geworden ist.

Klaus Vater liest einen Auszug aus seinem Roman „Die kleine Furcht“, wo ein Mensch aus der Firma ausscheidet und ihm dann nachgesagt wird, dass er ja eigentlich nie dazugehört hat.

 

Rs.

12.06.25

 

 

 

Eine Zusammenfassung, was sich aus den Ausführungen und Debatten mit den Vertreterinnen der Sinti-Roma und den Vertretern der Jenischen aus der Gesprächsarena Nr. 3 am 04.06.25 ergibt:

 

  1. Die „Sichtbarkeit“ der Ethnien ist in diesem Land, vielleicht auch in Frankreich zu erhöhen. Die Sichtbarkeit nicht nur optisch, sondern auch in den Medien, in der öffentlichen Diskussion, in der Repräsentation.

 

  1. Das „Wissen“ von und über ihre Geschichte, Kultur, Sprache, Verfolgung ist in der Regel dürftig. Sowohl in Deutschland als auch in Frankreich. So wäre es selbstverständlich, dieses Wissen auch in der Bildung, in der politischen Bildung zu implementieren. In den Geschichtsbüchern, in den Lesebüchern aller Schularten, in der Fort- und Weiterbildung. Auch in der Fort -und Weiterbildung an Hochschulen, an Universitäten, in Ministerien, bei Behörden, bei Gewerkschaften und Kirchen. Aber auch in den Medien wie TV, Soziale Medien, im Kultur- und Literaturbetrieb.

 

 

  1. Was an diesem Tag in Stuttgart besonders klar war: Die Forschungslage sowohl bei den Sinti-Roma wie auch bei den Jenischen ist hochdefizitär. Das, was Klaus Vater aus dem Landtag in NRW berichtet, dass nichts bekannt ist, das ist wahrscheinlich auch im restlichen Deutschland so und wahrscheinlich auch in Frankreich. So ist der Vorschlag nach einer interdisziplinären Beforschung dieses Themas „Sozioökonomische Lage von Ethnien am Beispiel Sinti-Roma und Jenische“ eine zentrale Forderung an diesem Tag. Die interdisziplinäre Forschung müsste ansetzen durch Elemente aus
  • Der Kulturwissenschaft (Volkskunde)
  • Der historischen Forschung
  • Der Soziologie
  • Der Politikwissenschaft
  • Der juristischen Wissenschaft

Mit Sicherheit wäre zu schauen, wo in Europa es Forschung zu (diesen) nationalen Minderheiten gibt. Mit Sicherheit fehlen statistische Erhebungen, aber auch Formen einer narrativen Forschung wären mit Sicherheit erfolgreich.

 

  1. Ein direkter Vorschlag an diesem Tag kam von Frau Simon als Vertreterin der Sinti-Roma: die Minderheiten sollten im Beirat zur Armutsbekämpfung in Baden-Württemberg vertreten sein. Damit könnten sie ihre Interessen und Themen einbringen, an den Diskussionen teilnehmen, Netzwerke entwickeln und so die mangelnde Teilhabe und die soziale Ausgrenzung überwinden.

 

  1. Weiterer Vorschlag war „Bildungsprojekte“. Allerdings blieb offen für was und wen und wie genau.

 

 

  1. Seitens Frau Reinhardt aus Mulhouse kam der Vorschlag von grenzüberschreitenden Projekten. Projekte #von unten meinte sie. Zwischen den beiden Menschenrechtsbüros links und rechts des Rheins gibt es eine Zusammenarbeit. Vielleicht könnte dort der weitere Ausbau der Kontakte erfolgen, auch am Denkmal für das Leben in Lutterbach-Mulhouse.

 

  1. „Die Lage der Ethnien Sinti-Roma und Jenische ist ein Teil des Kampfs um Menschenrechte und Menschenwürde. Dies sei auch an diesem Tag klar geworden“. So ein Kommentar von französischer Seite.

 

 

  1. Ein weiterer Kommentar von französischer Seite, Frau Reinhardt war: „Die Regierungen in unseren Ländern tragen die Verantwortung.“ Was sie alles damit meinte, das kann man nur erahnen.