Zusammenfassung Beitrag von Roland Saurer, lak-bw, Freudenstadt, DRK – Samstag, den 19.11.22

Ausführungen und Überlegungen zum Thema „Armut –  gestern und heute“

  1. Definition von Armut:
  • Primäre Armut, d.h. es fehlt an Nahrung, Kleidung, Obdach
  • Sekundäre Armut, es fehlt an Bildung, Kultur, Arbeit, Gesundheit, Teilhabe, es entwickelte sich der Begriff der relativen Armut, d. h. Armut bezieht sich auf eine Messgrösse, z. B. 60 % des Durchschnittseinkommens in einem europäischen Land, zum beispiel für Deutschland mtl. derzeit Euro 1.241.-, daraus entsteht der Begriff der Armutsgefährdung, dies betrifft in Deutschland zur Zeit rund 14-16 % der Bevölkerung, allerdings völlig unterschiedlich: Alleinerziehende rund 50 5, Langzeiterwerbslose rund 80 %, Studierende aktuell, 38 %, Rentenhaushalte rund 20 %. Migrationshaushalte rund 30 %. Derzeit sind noch nicht erfasst die Auswirkungen von Ukrainekrieg. Verteuerungen, Inflationsrate, Kosten für Strom und Gas, Heizungskosten etc. Zudem existiert eine Dunkelziffer an Not und Armut, sodass rund 20 – 25 % der Bevölkerung von Armutslagen betroffen sind. Kunden der Tafel in Deutschland vermtl. derzeit rund 2,5 Millionen Haushalte.
  • Tertiäre Armut, d.h. weitere Überlegungen kommen ins Spiel zum Beispiel Menschenrechte, Grundrechte, Menschenrechte als universelle Rechte, Sonderrechte für Behinderte, Kinder, Frauen, Flüchtlinge etc.
  • Multiple Deprivation: ein bereits in den 1970 er Jahren entwickelte Definition einer Armutsdefinition, die Umweltbelastungen wie Smog, Strahlenbelastungen, Klimawandel mit einbezieht. Prognose 2050: 1 Milliarde Menschen auf den Flucht vor dem globalen Klimawandel.

  1. Umgang mit den sogenannten Armen in der Geschichte und Gegenwart:

 

  • Altertum und Antike: negativ besetzter Begriff, Arme gelten als minderwertig, werden in der Sklavenhaltergesellschaft eher diskriminiert.
  • Mittelalter: Unter Karl dem Gossen (747 -814), gelten Arme als schutzbedürftig und besitzen gewisse Unterstützungsrechte, basierend auf dem Lehnsprinzip und der Grundherrschaft, Formen der Leibeigenschaft werden über Jahrhunderte praktiziert, es besteht ein gewisses Wechselverhältnis von Leistungen, Abgaben sowie verschiedenen Ausbeutungsverhältnissen, dem steht eine Garantie des Schutzes des Lehnsherrn gegenüber. Garantien den Armen gegenüber haben Kirchen, Klöster, Bischofsitze, die Ordensgründungen zwischen 600 und dem Jahr 1200,, besonders die franziskanischen Orden, die benediktinischen Orden. Existenz des Almosenwesens zwischen 700 – 1200.
  • Spät-Mittelalter und Städte: in der mittelalterlichen Stadt entsteht ein neues Sozialgefüge, neben dem Handwerk, dem Patriziat, dem Nah- und Fernhandel existiert ein städtisches Armutspotential von ausserordentlichem Umfang. Dieses städtische Armutspotential wurde über Jahrhunderte unterstützt, jedoch wendet sich das Blatt, aus der Unterstützung und Akzeptanz wird im 15. Jahrhundert zunehmend eine Verregulierung der Armut in Form von Bettelordnungen bzw. Armenordnungen, z. B. Nürnberger Armenordnung von 1489, bis hin zum Bettelverbot in der Zeit nach 1530. Die Renaissance (etwa ab 1500)entwickelt ein neues Verständnis gegenüber dem Armutspotential, das eher ablehnendes Natur ist. Es gibt Leute wie z.b. Geiler von Kaysersberg in Strassburg, der aktiv gegen das Bettelwesen kirchlich lehrt, auch Martin Luther ist in seinen Schriften kein Freund der Armen. Das neue sich durchsetzende Arbeitsethos heisst Wirtschaftlicher Erfolg und die Entwicklung einer Arbeitsdisziplin.
  • Armut im Absolutismus (1550 – 1800): die Reichs-Städte verlieren nach 1500 an Macht, die landesherrschaftliche Zeit beginnt, der sog. Absolutismus entwickelt sich zur Herrschaftsform in Europa, mit einem westlichen Absolutismus (Frankreich, England, Spanien, auch in deutschen Gebieten (auch Württemberg, Bayern, Kurpfalz, in Preussen), aber auch in der östlichen Variante des Zarismus, der bis 1917 dauert. Die Leibeigenschaft als Herrschaftsform wird 1793 in Deutschland angeschafft.
  • Was jedoch im Absolutismus neu entsteht sind die Anstalten und totalen Institutionen. Also Gefängnisse, Zuchthäuser, Arbeitshäuser, landeseigene Institutionen wie die Irrenanstalten oder auch staatliche Manufakturen der Glas-, Farb- oder Porzellanproduktion. (Winnenden, Meissen etc.) . Bettelei wird massiv eingegrenzt und bekämpft. In dieser Phase entstehen Widerstandformen (Sozialaufstände) in Form von Regionalen Banden, die umherziehen, die von Diebstahl, Plünderung, Überfall leben. Beispiel Schinderhannes. Diese setzen geistig zum Teil an den Bauernkriegen des 16. Jahrhunderts an (1525 – 1540) und beschäftigen den Absolutismus rund ein Jahrhundert lang, vor allem in der Zeit um den 30 jährigen Krieg (1618-1648) und in den Jahrzehnten danach.
  • Durch die Industrialisierung in Europa ab 1780 (Eisenbahn, Dampfmaschine, Stahlproduktion, Schiffbau, Rest-Kolonialisierungn des Planeten….) entsteht ein neuer Typus von Armen, es ist der Arme, der das neue Proletariat mit anderen zu Tausenden bildet. Dieser proletarische Sozialtypus, samt Familie, wird zum neuen historischen Modell. Die Städte wachsen, es entstehen neue Formen, die Leibeigenschaft verschwindet, die Menschen werden aus den feudalen Abhängigkeiten entlassen, aber sie werden dadurch freigesetzt und sie bilden eine schutzlose Masse. In den Städten entwickelte sich die sog. Quartiersarmenpflege ab 1830, die das neue Sozial-Modell darstellt. Diese Form wird bis Ende des 19. Jahrhunderts im Reichsgebiet sich durchsetzen, daraus entstehen dann speziell nach 1870 die sogenannten Almosenämter/Armenämter in den Städten, die jedoch der verlängerte Arm des Polizeirechts in den Städten sind. Unter Bismarck entstehen
  • um 1878/1885 die ersten Sozialgesetze, zur Bekämpfung der Armut einerseits und gegen den Widerstand politisch linker Bewegungen (Marx, SPD, Sozialistengesetze, Pariser Kommune etc.) Der Erste Weltkrieg ist eine entscheidende Epoche, die zum Zusammenbruch der Monarchie in Deutschland, in Österreich-Ungarn, im zaristischen Russland, im fernen China (Mao Tsetung), aber auch zum Aufstieg des Faschismus in Deutschland, in Spanien, in Italien führt.
  • Nach 1918 verändert sich das Bild von Armen nochmals: die Reichsregierung schafft neben den bereits aus der Bismarck-Ära bestehenden Ansätzen der Kranken- und Rentenversicherung, neue gesetzliche Grundlagen wie das Arbeitslosengesetz (1927), die Unfallversicherung (1884/1928), das Reichsjugendwohlfahrtsgesetz (1923) sowie die sog. Reichsgrundsätze RGr über Art und Umfang der Öffentlichen Unterstützungsformen (1923). Die Regelungen der Hilfen erfolgten regional in den einzelnen Ländern des Reiches..
  • In der Ära 1933 – 1945 herrscht die Allgemeine NS-Volkswohlfahrt, der Reichsarbeitsdienst, die neue Aufrüstung in Form der deutschen Wehrmacht, die dann vom Kriegszustand mit Kriegswirtschaft (Marken etc.) abgelöst wird.
  • Nach 1945 erfolgt eine mühselige Rekonstruktion der Sozialbürokratie, die das Elend der Nachkriegsjahre, mit 10 Millionen Flüchtlingen aus dem deutschen Osten zu bewältigen hat. Deutschland ist gespalten in zwei Staaten; eine der ersten gesetzlichen Regelungen ist das Jugendwohlfahrtsgesetz 1953 und dann eine besondere Errungenschaft das BUNDESSOZIALHILFEGESETZ  von 1961/1962. Hiermit werden alle Landesgesetzgebungen zur Wohlfahrt und Unterstützung abgelöst.  Wir haben also neben dem Arbeitslosengesetz, dem Arbeitslosenhilfegesetz das Instrumentarium des Bundessozialhilfegesetz mit einem bundeseinheitlichen Regelsatzsystem, mit einem persönlichen Recht auf Hilfe/auch mit einem rechtsstaatlichen Schutz.
  • In der Phase nach 1982 wächst die Kritik am Sozialstaatsmodell der Bundesrepublik Deutschland, die Arbeitslosenhilfe kommt unter Druck, die ökonomischen Krisen der Bundesrepublik führen zu Erscheinungen wie Arbeitslosigkeit und sozialer Verunsicherung. Der Sozialabbau findet in vielerlei Form statt. Bei Rente, bei Studium, bei ALG Unterstützungen, bei der Jugendhilfe, der Gesundheit, der Ausbildung.                                                                             
  • Der Fall der Mauer in 1989, der Anschluss der DDR im Jahr 1990 an die Bundesrepublik verändert nochmals die Lage. Massenarbeitslosigkeit zeichnet die späten 90er Jahre. In dieser Situation entsteht ein neues Modell der Unterstützungspolitik: Die Agenda 2010, die eine gewaltige Veränderung in allen Leistungsgesetzen bedeutet. Die einzelnen Gesetze werden im Sozialgesetzbuch zusammengefasst; also vom  Sozialgesetzbuch I – SGB XII. Darunter auch das SGB II, das dann den Namen nach der Person des Peter Hartz erhält, der die 4 Hartz-Vorschläge geliefert hat, darunter das Hartz IV.                                                            In diesem Hartz IV werden also Sozialhilfe mit den  Hilfen zum Lebensunterhalt und die Leistungen des Arbeitslosengeldes , also der Arbeitslosenhilfe, zusammengefasst und dies wird dann als Grundsicherung des SGB II
  • Diese Regelungen sollen nunmehr 2022/23 durch das sogenannte Bürgergeld der Koalitions-Regierung in Berlin abgelöst werden. Das Bürgergeld soll einen diskriminierungsfreien Umgang mit menschlichen Notlagen garantieren. Die Sanktionspolitik soll sich ändern, die materiellen wie nichtmateriellen Leistungen sollen sich differenzieren, die Schwerpunkte sollen auf Qualifizierung und Ausbildung liegen. Neben dem Bürgergeld soll es ein eigenes System der Kindergrundsicherung (2025) geben, sodass Kinder, Jugendliche und Familien nicht mehr vom Hartz IV- System betroffen sind.

Was wir also bei diesem historisch-aktuellen Durchgang erleben, ist der Wandel der Haltung gegenüber dem Hilfesuchenden, also das sich verändernde  Menschenbild. Jahrhunderte der Repression, der Bestrafung, der Gängelung, der Ausgrenzung, der Vertreibung, auch der Vernichtung im Faschismus finden ein langsames Ende. Auf Dauer wird sich der Grundanspruch auf ein bedingungsloses Grundeinkommen entwickeln. Dieses ist in der sozialwissenschaftlichen Diskussion deutlich erkennbar. Spätestens wenn menschenrechtlichen Kategorien mit entscheidend sein werden, wird sich das Fördern oder gar das Forderungssystem des SGB II nicht mehr halten lassen.

 

Was wir nicht betrachtet haben sind die Auswirkungen der Französischen Revolution von 1789 und die Revolutionären Unruhen des Vormärz und der Jahre um 1847/1849 in Deutschland etc.

 

Literatur, die ich dabei hatte, falls wir sie gebraucht hätten:

  1. Erster Armuts- und Reichtumsbericht Baden-Württemberg, 2015
  2. Winfried Gebhardt/Ronald Hitzler, Nomaden, Flaneure, Vagabunden, Wiesbaden 2006
  3. Pierre Bourdieu, Gegenfeuer, Konstanz 2004
  4. Die weltweite Ungleichheit, world unequality report, 2018, München 2018
  5. Sylvia Staub-Bernasconi, Soziale Arbeit als Handlungswissenschaft, Bern, Stuttgart, Wien 2007
  6. Silvia Staub-Bernasconi, Menschenwürde-Menschenrechte- Soziale ARBEIT; Opladen 2019
  7. Ernst-Ulrich Huster u. a., Handbuch Armut und Soziale Ausgrenzung, Wiesbaden 2008
  8. Roland Anhorn, Frank Bettinger u. a. Kritik der Sozialen Arbeit – kritische Soziale Arbeit, Wiesbaden 2012

Robert CASTEL, Klaus Dörre, Prekarität, Abstieg, Ausgrenzung, Frankfurt 2009

  1. Oliver Nachtwey, Die Abstiegsgesellschaft, Berlin 2016
  • Michel Foucault, Überwachen und Strafen – Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt 1994
  • Heiner Keupp. Einmischen, es geht nicht anders! Kritisch-gemeindepsychologische Perspektiven, Tübingen 2021
  • Rolf Dieter Hepp, Hrsg., Prekarisierung und Flexibilisierung, Münster 2012
  • Magdalene Freudenschuss, Prekär ist wer?. Münster 2013
  • Karin Scherschel, Peter Streckeisen, Manfred Krenn, Neue Prekarität, Europ. Länder im Vergleich, Frankfurt 2012
  • Heinz Bude/ Andreas Willisch, Das Problem der Exklusion, Hamburg 2006
  • Martin Kronauer, Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hochentwickelten Kapitalismus, Ffm. 2002
  • Nakamura/Leenen/Kater/ Osterfeld, Ausweg Strasse!? Ein Arbeitsbuch zur Wohnungslosigkeit, Münster 2013
  • Manfred Bosch, Sepp Mahler – Ich der Lump – Philosoph der Landstrasse, das literarische Werk, Gedichte Prosa, Dokumente, Bilder, demand verlag, Waldburg 2015
  • Tennstedt/Ch. Sachße, Geschichte der Armenfürsorge vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg, Stuttgart 1984

rs., 20.11.22