Man muss mit dem Herzen schenken – nicht mit der Hand

Obdachlosigkeit – die Entscheidung, teilweise auszusteigen und Armutnicht so wie die anderen der Gemeinschaft zu leben, gibt es in verschiedenen Formen vermutlich seit sich Menschen zu Gesellschaften zusammengeschlossen haben.

Hilfsangebote und soziale Projekte können dieses Phänomen ebenso wenig zum Verschwinden bringen wie gesetzliche Verbote, Schikanen und Verfolgung (§ 361 StGB, der erst 1969 gestrichen wurde, erlaubte den Nazis 1933 brutal gegen Bettler vorzugehen). Die Obdachlosigkeit wird trotz aller Nachteile auch in unserer Gesellschaft von einigen gewählt. Wie sehen diese Wege aus? Was fehlt diesen Menschen, was suchen sie auf der Straße?

Oder anders gefragt: Was brauchen Obdachlose, wie und warum wird man obdachlos und wieso gibt es Menschen, die obdachlos bleiben? Auf diesen paar Seiten können die Fragen natürlich nicht wirklich beantwortet werden. Aber der Text soll einige Punkte liefern, die bei der Diskussion dieser Fragen eine wichtige Rolle spielen. Als Einstieg ins Thema folgt eine Geschichte, die man sich von Rainer Maria Rilke erzählt.

Gemeinsam mit einer jungen Französin kam Rilke um die Mittagszeit an einem Platz vorbei, an dem eine Bettlerin saß, die um Geld anhielt. Ohne zu irgendeinem Geber je aufzusehen, ohne ein anderes Zeichen des Bittens oder Dankens zu äußern als nur immer die Hand auszustrecken, saß die Frau stets am gleichen Ort. Rilke gab nie etwas, seine Begleiterin gab häufig ein Geldstück. Eines Tages fragte die Französin verwundert nach dem Grund, warum er nichts gebe, und Rilke gab ihr zur Antwort:

„Wir müssen ihrem Herzen schenken, nicht ihrer Hand.“

Wenige Tage später brachte Rilke eine eben aufgeblühte Rose mit, legte sie in die offene, abgezehrte Hand der Bettlerin und wollte weitergehen.

Da geschah das Unerwartete: Die Bettlerin blickte auf, sah den Geber, erhob sich mühsam von der Erde, tastete nach der Hand des fremden Mannes, küsste sie und ging mit der Rose davon.

Eine Woche lang war die Alte verschwunden, der Platz, an dem sie vorher gebettelt hatte, blieb leer. Vergeblich suchte die Begleiterin Rilkes eine Antwort darauf, wer wohl jetzt der Alten ein Almosen gebe.

Nach acht Tagen saß plötzlich die Bettlerin wieder wie früher am gewohnten Platz. Sie war stumm wie damals, wiederum nur ihre Bedürftigkeit zeigend durch die ausgestreckte Hand. „Aber wovon hat sie denn all die Tage, da sie nichts erhielt, nur gelebt?, fragte die Französin.

Rilke antwortete: „Von der Rose“

Kann man als Obdachloser von einer Rose allein leben? Wohl kaum. Es stellt sich aber auch die Frage, ob Geld allein ausreicht zum Leben. Was wollen und brauchen Obdachlose? Geld oder Rose – oder gar eine Wohnung? Der formale Ausgangspunkt für die Obdachlosigkeit ist der Verlust der Wohnung und Schwierigkeiten bei der Beschaffung einer neuen.

Wäre es also damit getan, ein Haus für Obdachlose zu bauen? Für einige sicherlich. Menschen, die aus finanziellen Gründen keine Wohnung haben und aus persönlichen Gründen weder von Bekannten oder vom Staat Unterstützung bekommen, würde eine Wohnung den Teufelskreis wahrscheinlich durchbrechen können. Bei den meisten anderen aber wäre eine Wohnung nur der Beginn neuer Probleme mit z. B. Nachbarn, Vermieter, Behörden – und somit nur eine Zwischenstation auf dem Weg zurück auf die Straße. Das zeigt sich auch statistisch.

Es gibt nämlich eine ganze Reihe von Untersuchungen, und die meisten kommen zu dem Ergebnis, dass mit zunehmenden Wohnungszahlen nicht automatisch ein Abnehmen der Obdachlosigkeit verbunden ist. Eine Wohnung allein tut’s also nicht. Geld oder Rose? Die Rose ist sicherlich wichtiger als Geld; Geld gibt man nicht einfach so.

Meistens gibt man Geld, wenn man etwas kaufen will. Und die meisten, die Bettlern Geld geben, wollen sich ein reines Gewissen kaufen. Und was passiert mit dem Geld? Natürlich geht es nicht immer für eine Bombe Schnaps oder ähnliches drauf. Aber der eine Euro, den man in den Hut wirft, helfen niemanden, aus seinem Zustand herauszukommen. Und eigentlich wollen wir ja helfen.

So ist die Frage: können wir wirklich helfen, wenn wir durch unser Geben Abhängigkeit erzeugen und das System des Bettelns stabilisieren? Die Frage löst sich auf, wenn wir nicht fragen, ob wir geben und helfen sollen, sondern WAS wir geben und WIE wir helfen können.

Dafür ist es hilfreich zu wissen, wen man vor sich hat, und wieso gerade dieser Mensch obdachlos wurde. 08/15 Rezepte fürs Helfen gibt es nicht, sonst gäbe es längst keine Bettler mehr.

Warum gibt es überhaupt Obdachlose? Obdachlosigkeit ist für die meisten, die eine Wohnung haben, eine ziemlich abschreckende Vorstellung: man ist der Natur mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert, muss jeden Tag erneut darum kämpfen, nicht zu erfrieren, zu verhungern und zu verdursten, man wird von jedem Passanten als Angehöriger der untersten Schicht unserer Gesellschaft angesehen und meist so behandelt.

Und so wählt kaum einer diese Alternative, wenn er nicht muss. Aber warum haben die Obdachlosen diesen Weg gewählt?

Auslöser sind oft schwere Krisen, die Einkommensminderung zur Folge haben (Krankheit, Arbeitsplatzverlust) oder Brüche von Beziehungen (mit Eltern, Freunden, Partnern).

Diese Auslöser reichen aber nicht, sondern treten meist mit verschiedenen Faktoren auf:

  • Kulturelle Ebene: Durch die Minderheiten-Schichtdiskriminierung unserer Gesellschaft (schlechtere Ausbildung und finanzielle Situation von Minderheiten und niedriger sozialer Schicht) erhöht sich die Chance, in Teufelskreise zu geraten und obdachlos zu werden. Durch das geringe Ansehen und die Vorurteile der Bevölkerung gegenüber Obdachlosen (faul, hoffnungslos, wertlos, selbst Schuld) wird nur wenig Energie in Rehabilitation und Prävention von Obdachlosigkeit investiert.
  • Ökonomische Ebene: Es gibt zwar keinen nachweisbaren Zusammenhang zwischen Obdachlosenraten und volkswirtschaftlichen Daten, aber eine Quelle der Obdachlosigkeit ist definitiv Armut. Es finden sich nur wenige „von und zu“, d. h. Adelige auf der Straße. Wer immer schon wenig hatte, gibt sich eher mit weniger zufrieden als jemand, der selten verzichten musste; wer sein früheres Leben vermisst, wird ausdauernder sein und mehr Energie investieren um dorthin zurückzukehren.
  • Wohnungsmarkt: Der Einfluss der Wohnungszahlen auf die Obdachlosenzahlen ist geringer, als man meint, denn es kommt nicht nur auf die Zahl der Wohnungen, sondern auch auf deren Preise an. Weiterhin ist die Wohnungslosigkeit eher ein Symptom als eine Ursache für Betteln und Vagabundieren – das Leben in der Wohnung hat nicht nur einen finanziellen Preis, sondern auch einen sozialen: man muss mit manchmal fremden Menschen „unter einem Dach“ zusammenleben und deren Macken ertragen, kann sich selbst nicht völlig frei entfalten, muss sich Regeln unterwerfen,…
  • Soziales Netz: Die Eingebundenheit in Familien-/Freundeskreis spielt eine große Rolle bei der Entscheidung, auf die Straße zu gehen: es beginnt bei der trivial klingenden Frage, ob man in Notsituationen bei Freunden unterkommt und endet bei der Frage, ob man Erwartungen enttäuscht, wenn man so „tief sinkt“ bzw. lieber auf die Straße geht, als noch länger mit diesen Menschen zusammenzuleben.
  • Körperl. Gesundheit: Für jemanden mit niedriger Schulbildung und geringen Qualifikationen ist die körperliche Leistungsfähigkeit oft die einzige Chance auf Arbeit. Wenn diese (selbstverschuldet) durch z. B. exzessiven Alkoholkonsum oder (unverschuldet) durch z. B. Krankheit oder Überarbeitung ausfällt, kann es nicht nur zu Einkommensproblemen, sondern auch zu Selbstwertproblemen kommen, wenn man sich über seine Stärke und Leistungsfähigkeit definiert hat.
  • Gesundheit: Eine Einteilung in gesunde und kranke Menschen ist schwierig, Gesundheit ist immer noch nicht zufriedenstellend definiert; und so kommt es auf die Definition an, ob jemand als gesund oder krank gilt. Und es ist die Frage, ob allein der Weg in die Obdachlosigkeit ein Zeichen von psychischen Störungen ist. So gibt es aus der Antike den Spruch ‚sapiens omnia sua secum portat – Der Weise trägt all sein Gut bei sich‘. Mit anderen Worten: wer auf persönlichen Besitz und materielle Güter verzichtet, der ist weise

Dennoch ist auffällig, dass viele Obdachlose, mit denen man spricht, sich verfolgt fühlen, Stimmen hören oder allgemein von Wahrnehmungen berichten, die andere nicht teilen können.

Ob jedoch diese Erlebnisse ein Grund für das zurückgezogene Leben sind oder umgekehrt die Isolation der Obdachlosigkeit diese Erlebnisse hervorgerufen hat, ist nicht geklärt. Bei der Bewertung solcher Phänomene muss man aber vorsichtig sein, da Obdachlose vielfach eine schärfere Wahrnehmung haben (z. B. ist es immer wieder erstaunlich, was sie auf dem selben Weg, den man gerade entlang ging, mit einem viel flüchtigeren Blick alles entdecken.)

Einige Obdachlose brauchen nicht nur finanzielle Hilfe vom Sozialamt, sondern auch schon Hilfe um die Hilfe überhaupt in Anspruch nehmen zu können bzw. sich zu trauen.

Der Schritt in die Kälte und Isolation ist für einige Menschen einfacher, als der Schritt durch die Tür des Sozialamts.

Das ist für die meisten von uns eher schwer zu glauben. Zum einen wurden viele von uns viel weniger zögern, Hilfe vom Sozialamt in Anspruch zu nehmen, zum anderen erlebt man Obdachlose in den Fußgängerzonen oft nicht als so zögernd und zurückhaltend, sondern manchmal eher als aufdringlich oder sogar aggressiv.

Man darf dabei aber nicht vergessen, dass man oft nicht mitbekommen hat, wer von den vorübergehenden Jugendlichen, Skins oder auch Spießbürgern, den bettelnden Obdachlosen als kriminellen Penner bezeichnet hat und dass einige Obdachlose sich ihre Energie aus dem Alkohol ziehen, um den endlos langen Tag zu überstehen bzw. schlafen zu können ohne träumen zu müssen.

In abgeschwächter Form ist dieses Phänomen auch einigen von uns bekannt: man macht an manchen Tagen lieber einen Bogen ums Hochschulprüfungsamt, läuft wochenlang mit abgelaufenem Personalausweis umher, weil man wichtigeres zu tun hat, hält nur mit Mühe die von den Krankenkassen vorgeschriebene Frist ein, mindestens einmal jährlich zum Zahnarzt zu gehen.

Denn im Hochschulprüfungsamt sitzt uns nicht nur eine Person gegenüber, sondern ein Amt, das über unser weiteres Leben entscheidet und uns im Zweifelsfall gnadenlos abservieren kann.

Trotzdem fragt man sich, warum nicht irgendwann die Verlockung des Geldes vom Sozialamt größer wird, als der Skrupel dorthin zu gehen.

Warum gibt es Leute, die obdachlos bleiben?

Warum ziehen es einige Menschen vor, auf der Straße zu leben, wissend, dass sie eines Tages erfrieren, zu Tode geprügelt werden oder in einer belebten Fußgängerzone am Herzinfarkt sterben werden, weil die vorübergehenden Menschen nicht erkennen können, dass der Penner da drüben nicht schläft, sondern gerade stirbt – bzw. weil sie überhaupt nicht richtig hinsehen und es keinen wirklich interessiert!

Faktoren, die dazu beitragen, dass einige Obdachlosen keine Hilfe annehmen, sind:

  • Gewöhnung/Abfindung mit dem Zustand: die ständige Ausgrenzung, Degradierung und Selbstwertminderung führt irgendwann zu Akzeptanz des Zustandes (ich habe es nicht anders verdient, ich hab schon alles probiert, ich schaff es nicht)
  • Wer sich außerhalb unserer Gesellschaft stellt, entlastet sich zu einem gewissen Grad von sozialem Druck und gesellschaftlichen Erwartungen. Und wer einige Zeit ohne diesen Druck gelebt hat (und vorher möglicherweise darunter gelitten hat), möchte sich vielleicht gar nicht mehr dem Druck aussetzen.
  • Nach einiger Zeit hauen sich die meisten Obdachlosen ein soziales Netz auch in diesem Milieu. D. h. man kennt sich, schließt Freundschaft unter seinesgleichen. Eine Rückkehr ins geordnete Leben würde oft den Bruch dieser Beziehungen bedeuten und vielleicht sogar den Sprung in eine neue Welt, in der man erst mal niemanden kennt und sich völlig allein und hilflos vorkommt. So ziehen es dann einige vor, die Dinge zu lassen wie sie sind – denn hier wissen sie, was abgeht.
  • Manchmal vergessen Helfer, dass es schon einige (fehlgeschlagene) Versuche gegeben hat, wieder in der Gesellschaft Fuß zu fassen.

Verständlicherweise verlieren viele nach einigen Rückschlägen den Glauben an sich selbst und resignieren.

Beispiel: Wer als Kind geschlagen wird, bis der Kochlöffel zerbricht und es als sein schönstes Erlebnis ansieht, sich zum ersten Mal wehren zu können – und dann Unabhängigkeit und sich selbst durchschlagen können als wichtige persönliche Eigenschaft nennt, wird nicht unbedingt bei Autoritäten und Ämtern Hilfe beantragen.

Die vielen Jahre außerhalb unserer Gesellschaft und ihrer Regeln machen eine Rückkehr in den Alltag nicht leicht. So steigen einige Obdachlose selbst in den Obdachlosenunterkünften nach wenigen Minuten im Bett in ihren Schlafsack und ziehen es vor, auf dem Boden zu schlafen.

Auch das Ziel von Obdachlosenheimen, nämlich die Verwahrung von mündigen Menschen auf engstem Raum, was sozialen Druck und Reibereien erzeugt, die wiederum zu Rückzugsverhalten fuhren, geht an kaum einem spurlos vorüber.

Der Konsum von Alkohol, die eingeschränkten sozialen Kontakte und der fast ausschließliche Umgang mit anderen Aussteigern tragen über längere Zeit hinweg eher zu einer Stabilisierung des Zustandes bei.

  • wer einmal in den Teufelskreis Obdachlosigkeit hineingeraten ist, hat auch bei der Arbeitssuche eher schlechte Karten
  • Keine feste Adresse/Wohnung
  • Unvorteilhaftes Erscheinungsbild
  • Geringes Selbstvertrauen
  • Kaum Arbeitserfahrung/geringe Qualifikation (Ressourcen und Fähigkeiten, die für uns selbstverständlich sind [lesen können, Fremdsprachen, Fremdwörter]) sind unter den Obdachlosen nicht selbstverständlich
  • Gründe, die bisher eine Arbeitsstelle verhindert haben wurden nicht beseitigt
  • Fehlende Unterstützung von Behörden
  1. Ein Obdachloser ist für einen Schreibtisch-Beamten ein anonymer Fall, von dem oft keine Gegenwehr droht.
  2. Hilfe von außen beschränkt sich meist darauf, den Obdachlosen an die gesellschaftlichen Werte anzupassen statt etwas zu suchen in das der Obdachlose passt

Wie hilft man, wenn der andere keine Hilfe für den Weg aus der Obdachlosigkeit will? Man hilft mit dem, was er braucht und annimmt. Wir müssen nicht immer unbedingt Rosen schenken, manchmal ist sicher auch Geld oder Aquivalentes das Richtige. Aber wir müssen wissen, warum wir schenken.

Wollen wir einfach unsere gute Tat für heute ausführen, oder wollen wir einem Menschen helfen? Wenn wir helfen wollen, müssen wir erst nachsehen, welche Hilfe benötigt wird. Vielleicht ist es nur zuhören, vielleicht ist es Unterstützung bei einem Behördengang und vielleicht ist es nur ein Euro.